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  • “Ich glaube nicht an den dritten Weg”
    Interview mit Vasco Goncalves
    aus der Jungen Welt zur Nelkenrevolution
    junge welt vom 24. April 2004
    Interview: Frank Bochow
    Gespräch mit Vasco Gonçalves über das Bündnis von Streitkräften und Bevölkerung in der portugiesischen Revolution, über die Rolle der SPD und der USA bei deren Zurückdrängung und Perspektiven für einen gesellschaftlichen Wandel
    * General Vasco Gonçalves (geb. 1922) war einer der Autoren des Programms der »Bewegung der Streitkräfte« (MFA), die am 25. April 1974 nach 48 Jahren die faschistische Militärdiktatur von António de Oliveira Salazar (1889– 1970) und dessen Nachfolger Marcelo Caetano (1906–1980) beseitigte. Nach der »Nelkenrevolution« war Vasco Goncalves Ministerpräsident Portugals in einer Reihe von Regierungen bis zum September 1975. Das Gespräch wurde am 28. März in Lissabon geführt.
    F: Wie erlebten Sie die Nacht vom 24. zum 25. April 1974, als im Radio mit dem Lied »Grândola, vila morena« von José Afonso das endgültige Signal zum Aufstand gegen das Caetano-Regime gegeben wurde?
    Ich war daheim, in meiner Wohnung, und blieb auch dort bis zum Abend des 25. April. So war es mit meinen Freunden vereinbart. Sie müssen wissen, daß der militärische Aufstand von den mittleren Offiziersgraden vorbereitet wurde, die sich anfangs in der »Bewegung der Hauptleute« zusammengefunden hatten, aus der dann die MFA, die »Bewegung der Streitkräfte«, hervorging. Ich war damals Oberst der Pioniertruppen und stieß erst Ende September, Anfang Oktober 1973 zu dieser Bewegung. Man kannte meine antifaschistische Haltung seit langer Zeit, und so suchte man den Kontakt mit mir. An den rein militärischen Operationen war ich nicht beteiligt. Zur Ausarbeitung des politischen Programms der MFA kam ich in der letzten Phase, insbesondere dann, als es darum ging, es mit General António de Spinola zu diskutieren, der an die Spitze einer Übergangsverwaltung, der sogenannten »Junta der Nationalen Rettung« gelangte.
    F: Die »Nelkenrevolution« siegte in wenigen Tagen und verlief weitgehend unblutig. Die Armee eines NATO-Mitgliedstaates war zur Trägerin einer fortschrittlichen Entwicklung geworden, die sich gegen die Regierung richtete. Welche Widerstände waren zu überwinden?
    In der Tat siegte der bewaffnete Aufstand in wenigen Stunden, es gab von der Militärhierarchie kaum Widerstand. Das hatte mehrere Gründe. Der entscheidende war der über 13jährige Kolonialkrieg. Die Mehrheit der Soldaten und Offiziere hatte erkannt, daß er nicht zu gewinnen war und nur beendet werden konnte durch den Sturz des faschistischen Regimes. Es hatte auch in der Vergangenheit schon mehrere Versuche gegeben, die faschistische Herrschaft zu beenden – jetzt war die Zeit endgültig gekommen.
    F: Ihr Hauptziel war der Sturz eines der letzten offen kolonialistischen und diktatorischen Regimes Europas. Beides gelang. Die ehemaligen Kolonien erreichten ihre nationale Unabhängigkeit, in Portugal wurde eine demokratische Verfassung erarbeitet. Sind damit aus historischer Sicht auch die beiden Hauptleistungen der MFA-Revolutionäre benannt?
    Vielleicht sollte ich für die Leser der jungen Welt noch einiges zur damaligen Situation sagen, 30 Jahre sind eine lange Zeit, und vieles verblaßt in der Erinnerung. Die »Bewegung der Streitkräfte« war keine revolutionäre Organisation. In ihr gab es sowohl Revolutionäre als auch Anhänger einer Gruppe, die lediglich die Caetano- Regierung stürzen wollte, ansonsten sollte sich wenig verändern. Selbst bei der Beseitigung des Kolonialregimes gab es viele Hindernisse. Zunächst einmal war geplant, in den Kolonien eine Waffenruhe zu verkünden, ein Jahr lang eine Übergangsverwaltung einzurichten, dann ein Referendum durchzuführen, in dem die Bevölkerung sich auch für die Autonomie und die Unabhängigkeit hätte aussprechen können. Das scheiterte natürlich an dem energischen Widerstand der Befreiungsbewegungen, die völlig zu Recht die sofortige Unabhängigkeit verlangten und nicht bereit waren, den bewaffneten Kampf aufzugeben. Wir, d. h. der progressive Kern der MFA, unterstützten vorbehaltlos diese Forderungen.
    Die eigentliche »Nelkenrevolution« begann nach dem 25. April. Zu unser aller Überraschung gingen Menschen auf die Straßen, forderten die sofortige Befreiung der politischen Gefangenen, die Beseitigung des Geheimdienstes, sie verbündeten sich mit den Soldaten und Offizieren in großartigen und bewegenden Aktionen. Wir selbst, d. h. die MFA, hatten zunächst dazu aufgerufen, in den Häusern zu bleiben, um bei eventuellen militärischen Auseinandersetzungen möglichst keine Opfer unter der Zivilbevölkerung zu haben. Und so kam es zu dem einzigartigen Bündnis zwischen Volk und Streitkräften, das bis Ende 1975 die entscheidende Grundlage für den Fortgang der Revolution bildete.
    F: Auf den Tag genau ein Jahr nach der »Nelkenrevolution« ergaben die Wahlen eine Mehrheit für die Sozialistische Partei, die in der BRD, in Bad Münstereifel, mit Unterstützung der SPD gegründet worden war. War das nicht eine Enttäuschung für die Linke? Und welche Rolle haben die SP und Mário Soares historisch aus Ihrer heutigen Sicht gespielt?
    Die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung am 25. April 1975 waren nur ein Teil des Entwicklungsprozesses. Ihr Ergebnis widerspiegelte die Tatsache, daß ein großer Teil der Wähler die wahren Absichten der politischen Parteien nicht durchschauen konnte. Bis auf das »Christlich-Demokratische Zentrum« (CDS) sprachen sich doch alle für die Enteignung der Großgrundbesitzer und die Entmachtung der Monopole und Banken, für die Rechte der Werktätigen und ihrer Interessenvertretung aus. Vergessen Sie nicht, daß diese Konstituierende Versammlung eine Verfassung erarbeitete, die am 2. April 1976 mit der Zustimmung fast aller Parteien angenommen wurde, in welcher der Sozialismus als Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung in Portugal festgeschrieben wurde. Diese Verfassung war Ausdruck der Stimmung im Volk und Widerspiegelung einer bis dahin einmaligen Massenbewegung. Die Landarbeiter besetzten die von den Großgrundbesitzern im Alentéjo verlassenen Güter, bildeten ihre »Kollektiven Produktionseinheiten« und begannen, das Land in eigener Regie zu bewirtschaften. Die Arbeiter und Angestellten in den Betrieben, Banken und Versicherungen forderten in vielfältigen Aktionen die Entmachtung der Monopolgruppen.
    In dieser stürmischen, wahrhaft revolutionären Zeit wagte es keine Partei, sich dieser Woge des Elans offen zu widersetzen. Wir, die progressiven Kräfte in der MFA, unterstützten mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln diesen Prozeß, bekräftigten dies in zwei Vereinbarungen zwischen der MFA und den Parteien. Die vier »Provisorischen Regierungen«, die ich als Ministerpräsident von Juli 1974 bis September 1975 leitete, erließen die entsprechenden Gesetze und Verordnungen. Mário Soares und der größte Teil der Führung der Sozialistischen Partei haben mit allen Mitteln versucht, diese Entwicklung zu verhindern. Faktisch führte die Sozialistische Partei die Konterrevolution an. Dem Namen nach sozialistisch hatte sie eine gewisse Popularität im Volk und war deshalb für diese Rolle am besten geeignet, konnte sie doch nicht beschuldigt werden, »rechts« zu sein. Unter Mário Soares als Regierungschef der ersten Regierung nach Annahme der Verfassung ab Juli 1976 wurden dann die ersten Maßnahmen gestellt, um die Errungenschaften der Revolution Schritt für Schritt zu beseitigen.
    F: Welchen Einfluß nahmen – neben der deutschen Sozialdemokratie – ausländische Kräfte auf die portugiesische Entwicklung?
    Der Sturz des faschistischen Regimes selbst stieß zunächst durchaus auf das Wohlwollen der USA und anderer kapitalistischer Staaten, hoffte man doch auf einen »normalen« Übergang zu einer formal bürgerlichen Demokratie im Rahmen Westeuropas. Mit dem Fortschreiten des revolutionären Prozesses änderte sich das jedoch radikal. Die USA äußerten mehrfach ihre Sorge über die Gefahr »einer kommunistischen Machtübernahme« in Portugal. Sie entsandten Frank Carlucci, eine Führungsfigur der CIA, als Botschafter nach Portugal, der sich nach meinen Kenntnissen auch nach Kräften in die inneren Prozesse einmischte. Faktisch widersetzten sich alle kapitalistischen Industriestaaten, gleich von welchen Parteien sie auch regiert wurden, der portugiesischen Revolution. Ich erinnere mich noch ganz gut an die NATO-Ratstagung in Brüssel im Mai 1975 und meine Begegnungen mit dem damaligen USA-Präsidenten Gerald Ford und dem Staatssekretär Henry Kissinger. Das ausdrückliche Ziel der Amerikaner im Gespräch mit mir war, daß ich sofort nach meiner Rückkehr nach Lissabon die Kommunisten aus der Regierung entferne, was ich natürlich ablehnte. Danach hatte ich den Eindruck, daß die amerikanische Regierung entschlossen war, auf andere Kräfte in- und außerhalb der MFA zu setzen, was sie im übrigen auch schon vor dieser Begegnung getan hatte.
    F: Portugal ist heute ein kapitalistischer Staat, dessen Regierungen, wie viele andere auch, eine neoliberale Politik betreibt. Worin sehen Sie die Hauptgründe für das Scheitern der sozialistischen Ziele der Aprilrevolution?
    Zu den Gründen für das Scheitern gehören nach meiner Meinung: die Divergenzen und Interessengegensätze zwischen den Demokraten, die sich, wenn auch mit vielen Schwierigkeiten, im Kampf gegen das Caetano-Regime und später zur Unterstützung der MFA und der Revolution zusammengefunden hatten; die Verschärfung des Klassenkampfes; eine sehr erfolgreiche ideologische und psychologische Offensive gegen die MFA, in deren Verlauf ihr revolutionärer Kern der Verbindung mit den Kommunisten beschuldigt wurde und das Gespenst einer neuen Diktatur an die Wand gemalt wurde, begründet in den weitgehenden Veränderungen der Eigentumsstrukturen; die tiefgehende Spaltung innerhalb der Linken der MFA, als Ergebnis des Einflusses der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Ideologie unter den Militärs; die Politik der Parteien, die bei den Wahlen zur »Konstituierenden Versammlung« gesiegt hatten, die, im Gegensatz zu den von ihnen proklamierten sozialistischen Zielen und ihrer Unterschrift unter die Übereinkunft mit der MFA, darauf gerichtet war, die sozialen Errungenschaften des April zu unterminieren; der Einfluß der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Ideologie auf die Mehrheit der portugiesischen Werktätigen und die Militärangehörigen; die antidemokratischen Verhältnisse in großen Gebieten des Landes; der andauernde beträchtliche Einfluß äußerst rechter und reaktionärer Kräfte bis hin zur Hierarchie der katholischen Kirche; das begrenzte politische Bewußtsein unseres Volkes; die Unterstützung, die der Konterrevolution von den internationalen sozialdemokratischen und christdemokratischen Parteien und von den imperialistischen Staaten gewährt wurde.
    F: 1986 wurde Portugal Mitglied der EU. Der Kapitalismus als gesellschaftliches System hat sich reetabliert. Welche Perspektiven sehen Sie heute für einen gesellschaftlichen Wandel in Portugal?
    Wir können heute nicht die unmittelbare Zukunft voraussehen. Wir wissen aber genau, wohin die aktuelle Politik führen kann. Deshalb ist der entschiedene Kampf gegen den Neoliberalismus und die Kriege, die das gegenwärtige Gesellschaftssystem hervorruft, nötig, ein Kampf, der letztlich die Überwindung des Kapitalismus zum Ziel hat. Ich glaube nicht an einen »dritten Weg« zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Diejenigen, die so etwas vertreten haben, sind stets bei einer Politik gegen die Interessen der arbeitenden Menschen angekommen, wie es das Beispiel der sozialdemokratischen Regierungen von Lionel Jospin in Frankreich, Tony Blair in Großbritannien und Gerhard Schröder in Deutschland beweist.
    Unter den gegenwärtigen außerordentlich schwierigen Bedingungen sehe ich die Aufgabe aller demokratischen und progressiven Kräfte meines Landes in der täglichen beharrlichen Arbeit zur Formierung eines politischen und sozialen Bewußtseins unseres Volkes, um seine tatsächliche Teilnahme an der Umgestaltung der Gesellschaft zu ermöglichen. In diesem Kampf spielen die Gewerkschaften, politischen Parteien, gesellschaftlichen Organisationen und Bewegungen, die an den unterschiedlichsten sozialen Aktivitäten beteiligt sind und für eine radikale Umgestaltung der Gesellschaft eintreten, eine entscheidende Rolle.
    In einem solchen Kampf gilt es, die Kräfte zu sammeln, die für eine Veränderung nötig sind hin zu einer Regierung, die bereit ist, das grundlegende Prinzip unserer Verfassung zu erfüllen, so wie es in der Präambel formuliert ist: »den Weg für eine sozialistische Gesellschaft zu öffnen, unter Respektierung des Willens des portugiesischen Volkes mit dem Ziel des Aufbau eines Landes in größerer Freiheit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit«.
    * Frank Bochow, Jg. 1937, war von 1977 bis 1981 Botschafter der DDR in Portugal
    Interview mit Vasco Goncalves

    aus der Jungen Welt vom 24. April 2004 zur Nelkenrevolution

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